Mitleid oder Alltag?
Ganz schwieriges Theme heute: Wie will ich eigentlich wahrgenommen werden als Krebskranker? Möchte ich normal, also ohne Sonderbehandlung begegnet werden, oder möchte ich, dass die Welt sich komplett auf mich und mein Schicksal einstellt?
Das ist erstens rein inhaltlich nicht leicht zu beantworten, und darüber hinaus hängt es vom Kontext und der jeweiligen Situation ab. Es ändert sich immer wieder. Das macht es den anderen natürlich umso schwerer.
Zur Näherung habe ich Rollen definiert, die ich in meinen Begegnungen wiederentdeckt habe. Wie reagieren die Menschen auf mich und meine Erkrankung? (Ich benutze hier konsequent die männliche Form. An anderer Stelle werde ich nur die weibliche nehmen.)
Ignorant: Der Ignorant behandelt mich wie immer – als ob ich gar nicht krank wäre. Das macht manches viel einfacher, weil ich mich selbst dann ja „normal“ fühle. Allerdings gibt es Siruationen, in denen ich eben einfach anders reagieren muss, vor allem wenn es um Anstrengung und als Folge Erschöpfung geht. Da wünsche ich mir Verständnis für den Wunsch, mich zu welcher Tageszeit auch immer zu schonen oder für eine Stunde zurückzuziehen. Das kann der Ignorant natürlich nicht verstehen. Ungläubig steht er dann vor mir und wundert sich, warum ich schon wieder schlapp bin.
Verdränger: Der Verdrängen ist eine Unterform des Ignoranten, allerdings äußert sich seine Unsicherheit und sein Unbehagen stärker. Er möchte sich nicht mit Krankheit, Vergänglichkeit und Tod auseinandersetzen und blendet das Thema aus. Oft hat er eigene traumatische Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht und mag all den Schmerz nicht wieder hervorholen. Völlig okay, wenn es nicht zur Methode wird. Denn für mich kann es verletzend sein, wenn der Verdrängen allzu flapsig mit einer für mich existenziellen Situation umgeht. Der Verdrängen hat daher auch Potenzial, mich zu verletzen.
Kümmerer: Der Kümmerer ist das Gegenteil vom Verdränger. Er will alles, was er tut auf mein Schicksal und meine Bedürfnisse ausrichten. Es ist seine Art, mit dem Leid umzugehen: Er versucht es zu lindern. Das kann aus meiner Sicht sehr angenehm sein, weil mir meine Wünsche von den Lippen abgelesen werden. Allerdings kippt es dann auch wieder in eine überbehütete Richtung, bei der ich mich nicht mehr als gleichberechtiges Gegenüber, sondern eher als bemitleidenswerter Patient empfinde. Daher kann es auch beim Kämmerer ein schmaler Grat sein. Großer Vorteil vom Kümmerer dennoch: Ich bin sehr frei in meinen Entscheidungen, so absurd oder auch belastend sie manchmal auch sein mögen (alleine mit dem Roller wegfahren, schöne aber teuer Sachen kaufen etc.).
Egoist: Der Egoist ist in meiner Situation natürlich der schwierigste Charakter. Ihm ist mein Schicksal nicht so wichtig. Stattdessen dreht sich nach wie vor alles um ihn selbst und seine Bedürfnisse. In der Konsequenz bedeutet das, dass der Egoist sich eigentlich gar in andere Menschen hineinversetzen möchte. Ihm fehlt Empathie. Seine eigene Welt ist diejenige, die ihm wichtig ist. Das macht es ihm auch schwer, Erfahrungen zu machen. Denn er greift immer wieder auf Vorhandenes (= seinen Eigennutz) zurück. Mit Egoisten mag ich – sogar unabhängig von meiner Erkrankung – nicht so gerne Kontakt haben. Und das ist meine neue Freiheit: Welchen Kontakt ich nicht mehr möchte, den lasse ich halt ruhen. Ich muss nicht „Everybodys Darling“ sein.
Beobachter: Der Beobachter ist auch nicht leicht zu behandeln. Er meint es zwar meist gut, doch den Verhalten ist davon geprägt, zu interpretieren und zu bewerten: Wie geht es ihm jetzt? Was hat er? Was braucht er? Im Gegensatz zum Kümmerer verharrt der Beobachte jedoch in der Analyse. Das kann für mich als Objekt anstrengend sein. Wer will schon die ganze Zeit durch ein Sezierglas beobachtet werden? Wer will stündlich gefragt werden, wie es denn nun gehe? Ich verkomme schnell zu einer Sache, die immer wieder neu interpretiert werden muss. Wobei das eigentlich lästige die distanzierte Diagnose und weniger die anteilnehmende Interpretation ist.
Forscher: Konsequent an der Sache interessiert, kann der Forscher ein sehr angenehmer Zeitgenosse sein. Denn ein Forscher geht vorbehaltlos an die Situation heran: Er beobachtet wie der Beobachter, gleicht das dann aber liebevoll mit meinen sichtbaren Bedürfnissen ab. Ihm ist meine Situation nicht egal, sondern er akzeptiert, dass er sie nicht ohne mich interpretieren kann. Der Forscher fragt, ohne aufdringlich zu sein und erfüllt Wünsche, ohne sich dabei selbst aufzugeben. Gute Basis für fruchtbaren Austausch.
Wunderheiler: Ganz schwierig. Es gibt über 400 Krebsarten. Mein Krebs gehört zu den aggressivsten (neuroendokrin) und darüber hinaus leider seltenen. Dennoch erzählen mir Menschen immer wieder von für mich völlig belanglosen Methoden/Ärzten/Mitteln, die bei jemand anderem für eine lange stabile Phase oder gar Heilung gesorgt hätten. Das ist für mich irrelevant! Und zwar, weil jede Krebserkrankung sehr anders ist. Das Gemeine an den Wunderheilern ist, dass ihr Anliegen völlig integer ist, sie sich im Recht fühlen und vor allem beim Betroffenen (also bei mir) eine trügerische Hoffnung erzeugen. Natürlich würde ich gerne gesund werden. Aber ich bin in Behandlung eines Arztes, dem ich vollständig vertraue. Bitte keine Steine, Energieflüsse, kein Besprechen, absurde Wundermitteln und entsprechende Ärzte. Ich haben aktuell keinen Bedarf.
Du siehst, es ist nicht einfach, mit mir und meinen Vorstellungen umzugehen. Ich entwickle außerdem merkwürdige Marotten, wie zum Beispiel das sehr frühe Aufstehen, um der Sonne beim Aufgehen zuzusehen. Entsprechend müde bin ich dann ab zehn Uhr vormittags. Das hängt auch daran, dass meine Reise natürlich auch für mich vollkommen neu und irritierend ist. Ich ruhe noch längst nicht entspannt in mir und harre einfach der Dinge.
Daher: Der beste Weg, miteinander diese merkwürdige Situation zu meistern ist, über sie in aller Offenheit zu sprechen. Du öffnest dich mit deinen Ängsten, Sorgen, Wünsche und ich mache dasselbe. Das sollte ein guter Weg sein, bei dem wir beide viel lernen können.