Immer ist immer jetzt

Ein ganz profanes halbes Brötchen mit Fleischsalat und einer Scheibe Gewürzgurke beflügelte mich. Es war wenige Wochen nach meiner Krebsdiagnose in Eppendorf. Noch frühlingshafte Frische am Morgen. Ich hatte Hunger und wollte mir gegenüber meiner onkologischen Praxis etwas zu essen besorgen. Ich entschied mich für eben dieses halbe Brötchen.

Was war das für ein Genuss! Ich kann gar nicht sagen, was genau diese Gesschmacksexplosion ausgelöst hat. Aber was ich fühlte, war tiefe Dankbarkeit, solch einen Genuss empfinden zu dürfen. Ich war begeistert vom halben Brötchen.

So wurde das halbe Brötchen mit Fleischsalat für mich schnell zum Symbol für Gegenwartsorientierung. Den Augenblick wirklich genießen, ihn intensiv wahrnehmen und in sich aufnehmen. Im Kern das, was solche Sprüche wie „Carpe diem!“ transportieren wollen: Warte nicht auf irgendwann, sondern lebe und genieße den Augenblick!

Das fällt uns Menschen grundsätzlich schwer. Schließlich beschäftigen wir uns permanent mit der Zukunft, meist sorgenvoll, unsicher und zweifelnd. Darüber hinaus neigen wir auch dazu, Banales wie ein halber Brötchen nicht als wertvoll zu betrachten.

Aber die Zukunft ist nicht das Leben. Das Leben mit seinen Gefühlen kann nur jetzt stattfinden. Es gibt keine Gefühle, keine Emotionen, die außerhalb des Jetzt empfunden werden können. Wir können uns an Erlebnisse erinnern, was durchaus Gefühle in der Gegenwart auslösen kann. Aber die Emotionen finden niemals außerhalb des Jetzt statt.

Zurück zum Fleischsalat-Brötchen: Ich dachte also, dass es auf eine besonders hohe Intensität im Augenblick ankäme. Dann stelle sich der außerordentliche Genuss quasi von alleine ein. Und ich dachte, dass der Schwerkranke an dieser Stelle ein Privileg habe. Denn er kann sich der ganzen Planung, Konstruktion und Vorstellung der Zukunft komplett entziehen.

Doch nun habe ich festgestellt, dass ich es doch ein wenig anders ist: Es hat mit einer Art Schutzschirm zu tun, den ich in der Lage bin, über der Gegenwart auszubreiten:

Ich lass mir den Augenblick nicht mehr von einer düsteren Zukunft verdunkeln.

Ich bewahre mir die Schönheit des Augenblicks, indem ich radikal akzeptiere, dass die Zukunft noch nicht da und damit irrelevant ist. Mein Psychoonkologe spricht als Systemiker von Kontruktionen. Ein guter Begriff! Mithilfe von Konstruktionen erschaffen wir uns eine subjektive Vorstellung von dem, was kommt.

Der Begriff verdeutlicht, dass unsere typischen Gedanken an und über die Zukunft lediglich Möglichkeiten sind. Wir stellen uns künftige Möglichkeiten vor. Aber natürlich kann es auch ganz anders kommen. Und eigentlich besteht das Leben ausschließlich aus Gegenwart. Das Immer besteht aus ganz vielen Jetzt. Es geht gar nicht anders.

Wenn ich nun also durch radikale Akzeptanz, bedingungslose Hinnahme dessen, was auf mich zukommt, aufhöre, selbst zu konstruieren, kann ich mich ganz auf das Jetzt konzentrieren. Insofern ist diese Akzeptanz wohl die Voraussetzung für den Genuss des Augenblicks. Der Augenblick ist ungetrübt und rein. Aber die gegenwärtige Hingabe alleine reicht nicht aus. Der Augenblick braucht bedingungslose Freiheit von Konstruktionen.

Oder anders gesagt: Ich bin ja genau jetzt hier und glücklich. Wasimmer auch kommen mag: Aktuell bin ich hier und ziemlich fidel. Der Rest wird sich weisen. Aber solange soll er mich bitte nicht in der Gegenwart stören.

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