Die kleinen und großen „Sachen“
Ach, Paris. So gerne wäre ich mit meiner Familie zu dir gekommen!
Ich habe meiner Frau Jule im März einen Kurzurlaub in Paris geschenkt. Wir wollten in der zweiten Maihälfte für vier Tage in die französische Metropole reisen. Ich hatte Matti vorher gefragt, ob er London oder Paris spannender fände. Insofern war es ein sehr reizvolles Familienprojekt in den Pfingstferien, auf das wir uns alle drei schon sehr freuten.
Doch es kam ein wenig anders: Ich musste Mitte Mai wegen hoher Entzündungswerte und einer dafür notwendigen intravenösen Antibiotikaverabreichung ins Krankenhaus. Der Termin des Abflugs rückte immer näher und erschien gleichzeitig immer ungewisser. Die Blutwerte besserten sich nicht, es war zum Verzweifeln.
Schließlich mussten wir die schwere Entscheidung treffen, dass Jule und Matti alleine nach Paris fahren sollten. Sie waren nunmal an die Schulferien gebunden. Ich hätte eigentlich sehr unglücklich und verzweifelt sein müssen.
Doch irgendwie fühlte es sich anders an: Ich führte ein erfülltes Leben, so absurd es in diesem Zusammenhang klingen mag. Ich war nicht unglcklich.
Und hier kommen die eigentlichen Gedanken zu den vermeintlich großen und kleinen Sachen, die das Leben bereichern. Denn ich bekam im Israelitischen Krankenhaus eine besondere palliative Versorgung mit einigen Privilegien. Dazu gehörte auch eine tägliche Massage nach meinen Wünschen. Wunderbar erholsam.
Bei diesen Terminen, die von verschiedenen Therapeutinnen wahrgenommen werden, kommt man natürlich immer ins Gespräch. Zumindest, wenn es der Patient wünscht. Und ich hatte in der Tat das Bedürfnis, darüber zu sprechen, warum es mir angesichts der eigentlich traurigen Situation mit dem bitteren Verzicht auf die Parisfahrt dennoch so gut ging.
An einem dieser Tage sagte die Physiotherapeutin angesichts meiner Schilderung der großartigen mentalen Verfassung sinngemäß, es seien ja gerade die kleinen Dinge, die uns glücklich machen würden. Das erschien mir aber ein wenig unterkomplex. Es wirkte wie eine angelesene Phrase ohne besonderen Tiefgang.
Nein, ich empfinde diese Einteilung in große und kleine Dinge (Stichwort „die Blume auf dem Schrottplatz/in der Mauer/auf dem harten Steinboden“) als belanglos und eigentlich fehl am Platz. Ist die Parisfahrt etwas „Großes“? Etwas, was deshalb auch große Freuen schenkt? Und die tägliche Massage ist das „Kleine“, das mir mein Leben überproportional erhellt und verschönert?
Wer teilt alles ein in klein und groß? Sind das relevante Merkmale? Ist es nicht Ausdruck einer Leistungsgesellschaft, die primär mit monetären Werten umgeht? Was teuer ist, ist groß und bedeutsam. Das Große „nützt“ viel, spendet besonders viel Freude. Wirklich?
Das Kleine hingegen, das günstig oder gar kostenlos ist, kann nur eine kleine Wirkung haben, wenig Freude schenken. Das kommt mir merkwürdig vor. Es behandelt Klischees, die leider nur im Original charmant oder treffend sind. Das Wesen eines Klischees ist aber die platte Verallgemeinerung.
Das seien keine Kategorien, die mir wichtig seien, sagte ich zu der Therapeutin. Es gebe aus meiner Sicht gar keine Korrelation – zumindest sobald du eine bestimmte Tiefe erreicht hast. Diese Tiefe abstrahiert von oberflächlich monetären Ausprägungen.
Ich empfinde es eher so, dass alles bedeutsam oder belanglos sein kann. Es ist keine Frage von Wert oder Wertbeimessung. Es ist eine Frage von Wahrnehmung und Gegenwart. Subjektiv empfunden statt objektiv „messbar“. Dann spielen ökonomischen Kategorien oder gar Preise keine Rolle mehr.
Am nächsten Tag kam die Physiotherapeutin erneut. Und sie eröffnete von sich aus, dass sie noch viel über unser Gespräch und meine etwas entschiedene Reaktion nachgedacht habe. Mir ging es genauso, und es tat mir leid, dass ich etwas schroff und auch unangreifbar meine Meinung dargestellt hatte. Denn ein Verweis auf meine schwere Krankheit nimmt meinem Gegenüber schnell die Möglichkeit, sich inhaltlich eigenständig zu positionieren. „Kannst du garnicht wissen, weil du ja keinen todbringenden Krebs hast!“ Das ist ein abwürgendes Scheinargument.
Und es lag ein Interpretationskompromiss auf der Hand: Was sie meinte mit dem Kleinen und Großen, deren Wirkung auf Freude und Erfüllung sich umkehren kann, ist im Kern dasselbe, wie ich es empfinde: vermeintliche Kategorien lösen sich auf, es zählen nur mehr Wahrnehmung und Intensität. Damit waren wir beide zufrieden. Und ich genoss die Rückenmassage.