Jedes Leid ist gleich schwer

Ich hatte eine spannende Zeit im Israelitischen Krankenhaus. Spannend deshalb, weil ich eigentlich todtraurig hätte sein müssen: Der geplante Paristrip mit Frau und Sohn Ende Mai musste für mich krankheitsbedingt ausfallen. Doch statt zu verzweifeln am Krebs, an der Krankheit, an der Situation ging es mir mental sehr gut. Merkwürdig, aber wohl Ergebnis meiner nun schon über ein Jahr andauernden Reise. Sie zeitigt Entwicklungen und Entwicklungsstufen, die erfüllen.

Auch meine liebe Schwester Imke besuchte mich im Krankenhaus. Begeistert von meiner mentalen Verfassung las ich ihr einige Seiten von Tiziano Terzani vor, der mir mit seiner entspannten Neugierde auf den ihn bald ereilenden Tod aus dem Herzen sprach.

Doch das Vorlesen war egoistisch. Wie konnte ich davon ausgehen, dass auch meine Schwester dort angekommen war und nun stand, wo ich mich auf meiner Reise befand? Sie hat natürlich ihre eigene Sicht und ihre eigenen Empfindungen. Vor allem: ihre eigenen Ängste und Schmerzen. Sie sagte mir auch ganz offen, dass sie es sehr schätze, wenn es mir gut täte, solche Erfahrungen anderer zu lesen. Aber sie sei woanders. Sie könne das nicht ohne weiteres hören und ertragen, bei allem Verständnis.

Mit meiner Schwester Imke vor dem Israelistischen Krankenhaus. Sie liebt ihren kleinen Bruder sehr, das lässt sie mich spüren.

Meine Rücksichtslosigkeit machte mich etwas betroffen und forderte zum Nachdenken auf. Sie hatte natürlich Recht. Warum gehe ich ein wenig arrogant davon aus, dass andere Menschen – und seien es noch so Nahestehende – diese sehr. spezielle Situation so verarbeiten oder erleben, wie ich es tue?

Und weiter: Zwar bin ich der Sterbende, aber bin ich deshalb der einzig Betroffene? Nein, ganz und gar nicht! Was ist mit meiner Frau, die einer alleinerziehenden Zukunft ohne ihren Mann entgegensieht. Was ist mit meinem Sohn Matti, der seinen Vater verlieren wird und seine Jugend vaterlos verbringen muss? Was ist mit meiner Mutter, die – mit 84 ebenfalls im Herbst ihres Lebens – ihren Sohn zu Grabe tragen wird? Und was ist mit meiner Schwester Imke, die ihr bewegtes Leben mit ihrem vier Jahre jüngeren kleinen Bruder gelebt hat und der mit meinem Tod bald ein Teil dieses Lebens entrissen wird? Ich weine, während ich dies schreibe ...

Ich weine, weil es der tiefe Schmerz der anderen ist, die ich in der sichtbaren Welt verlassen werde. Sie leiden. Und auch wenn ich derjenige bin, der erkrankt ist, und ich nur meinen eigenen Schmerz wirklich tief erleben kann, so ist der Schmerz der anderen nicht minder stark oder belastend.

Leid lässt sich nicht objektivieren.

Das Leid meiner Schwester Imke ist nicht kleiner als meines oder das meines Sohnes. Es ist, und jeder bzw. jede muss mit diesem jeweiligen eigenen Leid umgehen. Das wird mal besser klappen, aber eben auch mal schlechter,

Ich glaube dennoch, dass es nicht nur mir selbst leichter fällt, diesen Weg so glücklich zu gehen, wie ich ihn empfinde, sondern auch allen anderen ein wenig hilft, das Unfassbare zu ertragen. Ich kann mir eine eigene klagende, verzweifelte Verfassung vorstellen, die für alle Beteiligten mit ihren je eigenen Gefühlen viel belastender wäre. Es ist nicht meine erklärte Absicht, mit stabilem Gerüst das Leid der anderen zu mildern. Dazu ist meine Gefühlslage zu wenig intendiert. Ich empfinde sie als Geschenk, als Folge einer bereits zurückgelegten Wegstrecke.

Aber diese sicherlich spürbare Erleichterung darf mir eben nicht vorgaukeln, dass alle anderen dasselbe empfinden können wie ich. Jeder trägt sein Päckchen. Wir helfen uns gegenseitig, die Situation zum Guten zu wenden, aber müssen uns unserer je unterschiedlichen Standorte liebevoll bewusst machen. Wir müssen Rücksicht aufeinander nehmen.

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Eine traumhafte Woche im Süden