Identität braucht Beziehungen

Nach der Diagnose wie im Februar 2023 habe ich verschiedene Phasen durchlebt: Nach dem ersten Schock und der Einstellung auf die neue Realität gab es bald auch eine Zeit großer Verzweiflung.

Mir wurde meine Rolle angesichts dessen, was ich erlebte immer bewusster. Und ich nahm wahr, dass alle, wirklich alle Menschen, mit denen ich Kontakt hatte, sich ebenfalls auf die neue Situation einstellten. Björn ist unheilbar krank und also zu bemitleiden. Er hat aufgrund solch eines schweren Schicksalsschlages eine Art Narrenfreiheit. Alle begegneten mir mit großer Anteilnahme und Rücksicht. Ich durfte mir alles rausnehmen, von spontanen Absage und Planänderungen bis kurzfristige Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Und natürlich das Verständnis für depressive Züge.

Aber was, so waren damals im Frühsommer 2023 meine Bedenken, passiert mit meiner Identität als Björn, wenn jede einzelne Beziehung kippt und in ein Ungleichgewicht gerät? Denn meine Identität wird ja maßgeblich von der Begegnung, von der Summe aller erlebten Beziehungen bestimmt. Ich bin, wer ich bin, weil ich mich mit anderen austausche.

Und wenn sich nun jede einzelne Beziehung so verändert, dass wir uns eben nicht mehr auf Augenhöhe begegnen, sondern ich primär als Patient und Leidtragender wahrgenommen werde? Wie verändert das meine Selbsterfahrung, meine Identität? Ich war verzweifelt, weil ich mich aufzulösen schien. Ich spürte keine erfüllende Selbstwirksamkeit mehr, sondern kam mir passiv vor. Der Mensch Björn mit all seinen Facetten schien sich wie in dem wunderbaren Song „Faded“ von Alan Walker aufzulösen. Ein Ausfaden meines Selbst. Ich bekam Angst und verzweifelte.

Seit Beginn an habe ich über die Stiftung Phoenikks den intensiven Kontakt zu einem Psychoonkologen erhalten. Alle zwei bis drei Wochen treffen wir uns digital für eine Stunde, und ich schütte ihm mein Herz aus. Das ist enorm hilfreich und gibt mir immer wieder neue Impulse.

Also sprach ich meine Sorge in einer Onlinesession mit Johannes Jakob direkt an. Und seine Lösung war so einleuchtend wir einfach: „Reden hilft!“ Ich solle, so sein Ratschlag, meine Gefühle und Ängste direkt und offen mit denjenigen besprechen, die mir eben dieses Gefühl des Ungleichgewichts vermitteln.

Das war entwaffnend. Denn zum einen musste ich mir eingestehen, dass es sich, wir Herr Jakob immer wieder betont, um Konstruktionen in meinem Kopf handelt. Bloße Vorstellung von einer Zukunft, die im Kern inkontingent ist. Sie ist immer ungewiss. Aber unsere Vorstellungen von ihr, die „Konstruktionen“ machen daraus eine subjektive Realität, an der wir uns mitunter sehr reiben.

Also fing ich mit meinem lieben Freund Wolfgang (s.o.) an. Als erstes musste ich mir eingestehen, dass es gerade mit ihm eigentlich gar nicht aufgehört hat, eine Begegnung auf Augenhöhe zu sein. Er vermittelt mir immer wieder sehr liebevoll, wie sehr er selbst von meinen neuen Erfahrungen profitiere. Ich sprach dennoch meine Sorgen aus. Und seine Reaktion bestätigte, was ich eigentlich schon wusste: Das Leben ist liquid und verändert sich permanent. Doch mit wachem Geist und liebevollem Herz ist solch eine Freundschaft, solch eine Begegnung immer ein gemeinsamer Gewinn. Hier sind zwei Menschen in offenem Austausch tatsächlich mehr als die bloße Summe. Sie pflegen die Beziehung mit immer neuen Themen. Wie Samen, die rund ums Jahr eingepflanzt und deren Früchte regelmäßig geerntet werden.

Ich erfuhr durch offene Kommunikation mit Wolfgang und anderen, wie konstruiert meine Konstruktion war. Es war gar nicht so. Und selbst wenn, dann wäre das Leben dazu da, sich immer wieder neu auf seine Dynamik einzulassen. Was für ein Geschenk. Meine Identität leidet nicht und der Krankheit, sondern im Gegenteil: Ich wachse an ihr und kann mir nahestehenden Menschen neue Impulse für ihr eigenes Leben gebe. Wie erfüllend!

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