Krebs ist wie altern, nur krasser
Vor dem Tod kommt das Altern. Es trifft jeden und jede von uns, es ist Teil des Lebens. Ein Werden und Vergehen. Und das Altern ist unabdingbarer Teil des Vergehens.
Was hinter diesen schlauen Worten steckt, weckt aber bei den meisten von uns latentes Unwohlsein. Alter verbinden wir mit körperlicher und geistiger Schwäche. Wir sind intellektuell nicht mehr so schnell wie noch vor wenigen Jahren. Und vor allem: Wir haben Angst, dass unsere Umwelt diese Langsamkeit, dieses “Nicht-mehr-Begreifen” bemerkt und uns als alt und tüddelig wahrnimmt.
Und körperlich stecken wir im Alter zwangsläufig zurück: Es geht nicht mehr so schnell, nicht mehr so viel, nicht mehr so ausdauernd. Merkwürdigerweise fällt es uns in der Regel leichter, die körperliche Einschränkung zu akzeptieren und zu ertragen als den geistigen Verfall.
Aber das Altern ist auch: Befreiung, Entlastung, Lebensfreude. Wir müssen nicht mehr auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten vorne mitspielen. Wir verlieren die Zwanghaftigkeit der Leistungsorientierung. Wir gewinnen Gelassenheit gegenüber vermeintlichen Erfordernissen. „Non importa!“ würde der Italiener sagen. Es ist einfach vieles nicht mehr so wichtig. Nein, wir nehmen es einfach nicht mehr so wichtig.
Diese Gelassenheit schafft Freiheit, sie befreit uns von den Zwängen einer Gesellschaft, in der wir leisten und „es“ schaffen müssen. Wir brauchen im Alter niemandem mehr zu beweisen, was für famose Kämpferinnen und Kämpfer innerhalb dieses ganzen Rummels wir sind. Und so stellt sich befreite Lebensfreude ein, die Möglichkeit, sich auf die je wichtigen Aspekte des eigenen faszinierenden Lebens zu konzentrieren.
Viel Literatur zum Alter
Seit Jahrhunderten machen sich mehr oder weniger begabte Menschen Gedanken über das Alter und das Altern. Mitunter beschreiben sie den Prozess als tragischen Abstieg, dann wieder trotzig als neues Glück.
Auch Elke Heidenreich hat sich an dem Thema versucht. In ihrem rund 100 Seiten schlanken Büchlein schreibt sie sehr persönlich über ihr Leben und das Älterwerden. Leider etwas banal und stereotyp. Andererseits mit vielen geistreichen Zitaten aus der Literatur. Hier einige Beispiele:
„Das Alter spiegelt deine Ansicht vom Leben wider, und noch im Alter wird deine Einstellung zum Leben davon geprägt, ob du das Leben wie einen steilen Berg begriffen hast, der bestiegen werden muss, oder wie einen breiten Strom, in den du eintauchst, um langsam zur Mündung zu schwimmen, oder wie einen undurchdringlichen Wald, in dem du herumirrst, ohne je genau zu wissen, welchen Weg du einschlagen musst, um wieder ins Freie zu kommen.“
„Und doch muss das Leben ein großes Privileg sein, wenn wir es mit dem Tod bezahlen.“
„Es geht um das Loslassen, das Annehmen, es geht um das Friedenschließen, das Einverstandensein, um das nicht dauernd den anderen, sich und das Leben Ändernwollen.“
„Mit achtzig sollte man mehr an die Gegenwart denken, vor der Vergangenheit muss man sich mitunter hüten, alten Kummer schlafen lassen, und die Zukunft ist eh nur noch eine vage Option. (...) Unsere Zukunft wird in großen Teilen von unserer Vergangenheit bestimmt. Es hängt schon zusammen, alles, das ganze Leben.“
Als Krebsi habe ich einen ganz anderen Zugang zum Alter: Denn was eigentlich Jahrzehnte sind, in denen wir uns an die schönen und lästigen Veränderungen des Älterwerdens gewöhnen können, waren bei mir Wochen. Eine Chemotherapie haut dich in der Regel so von den Socken, dass du dir plötzlich „ziemlich alt“ vorkommst: Du baust körperlich enorm ab. So habe ich 10 bis 15 kg an Gewicht verloren, vor allem Muskelmasse. Aber was haben meine Muskeln denn vorher gemacht? Sie haben mich in Bewegung gehalten, sogar mal als Leichtathletik-Mehrkämpfer. Auf sie nun zu verzichten bedeutet erschwertes Aufstehen, langsameres Gehen, Kurzatmigkeit.
Und da sind wir beim „Altsein“: Was ich seit Beginn der ersten Chemo im März 2023 erlebe, ähnelt dem, was Menschen ab 70 oder 80 erfahren. Wir können einfach nicht mehr so wie früher als junger Hüpfer. Ich merke das direkt in meiner Familie. Zum einen springt und tanzt da mein zehnjähriger Matti mit scheinbar unerschöpflicher Energie durch den Tag. Früher haben wir oft zusammen Fußball gespielt, sind über Wellen gehüpft, sind um die Wette gelaufen. Unbändig und lachend.
Das ist vorbei, was ihn natürlich sehr traurig macht. Hatte ich im ersten Sommer mangels Erfahrung noch gedacht, es gebe nach einer gewissen Zeit der Chemopause einen Art „Energieschub“, so weiß ich mittlerweile: Nein, diese Energie der jungen Jahre kommt nie wieder. Matti trägt es mit Fassung und Liebe.
Und hier ist der Krebs so wie das Altern, wenn auch im Turbogang. Es ist ein Verlust an Beweglichkeit und Bewegung, ein Verzicht auf Körperlichkeit. Ganz deutlich wurde mir das bei meiner 84-jährigen Mutter. Sie hat auf Kreta eine liebgewonnene Schlucht schon oft durchwandert. Es ist ein teils anspruchsvolle rund vier Kilometer lange Strecke von der Küste ins nahegelegene Dorf Zakros. Ein wunderschöner Pfad, bei dem man jedesmal Neues und Unbekanntes entdeckt.
Doch mit dem Alter machen ihre Knie nicht mehr so richtig mit. Stufen und Absätze sind einfach nicht mehr beliebig möglich für sie. Aber statt zu jammern akzeptiert sie das Neue. Dann eben nicht. Diese entspannte Akzeptanz dessen, was ist, macht eben auch frei. Oder anders: Ihre innere Freiheit macht es ihr leicht, auf Lebensbereiche zu verzichten, die eben nicht mehr funktionieren.
Und diese Akzeptanz habe ich zum ersten Mal seit der Diagnose im Flur des Israelitischen Krankenhauses bei mir selbst bemerkt. Ich wartete auf eine Computertomographie. Und wartete und wartete. Vor mir hing das Bild eines im Kreis schwimmenden Fischschwarms, das mir gut gefiel. Und ich merkte: Das Warten und einfach Dasitzen ist okay, ich habe nichts dagegen.
Es war die totale Zufriedenheit mit der aktuellen Situation. Es war die Gelassenheit pur. Noch vor wenigen Jahren wäre ich nervös geworden, hätte mich irgendwann darüber beschwert, dass man mich einerseits zu einer bestimmten Uhrzeit herzitiere, aber andererseits dann nicht in der Lage sei, das alles vernünftig zu organisieren. Doch nun: egal!
Mit der Gelassenheit durchströmt mich auch eine große Toleranz. Sie bedeutet mir, Entscheidungen und Verhalten von anderen hinzunehmen und zu akzeptieren, statt sie zu belehren und zu maßregeln. Und das macht mich noch gelassener.
Und hier schließt sich wieder der Kreis: Mit dem Alter, oder mit der Krebserkrankung, kann eine neue Einstellung gegenüber der Welt entstehen. So wie es für meine liebe Mutter völlig unproblematisch ist, auf vermeintlich liebgwonnene Aspekte der Lebensführung zu verzichten, so kann auch ich Dinge ohne Groll über Bord werfen, von denen ich weiß, dass sie nicht mehr zählen, nicht mehr wichtig sind.
Und gerade im Verhältnis zu meiner Mutter ist Faszinierendes geschehen: Weil wir beide nun über einen offenbar begrenzten künftigen Zeithorizont verfügen, sind unsere Themen viel ähnlicher. Mit ihren 84 Jahren setzt sie sich natürlich mit ihrem Lebensende auseinander. Sind es noch fünf, noch zehn oder doch noch mehr Jahre? Und bei mir? Wohl etwas weniger, aber ebenso gewiss begrenzt.
Was bisher von einem Altersunterschied von 29 Jahren geprägt war, tariert sich nun aus. Wir werden Gesprächspartner auf Augenhöhe, weil wir die Lebenssituation des jeweils anderen unmittelbarer nachvollziehen können. So haben sich schon ganz neue Gesprächsinhalte zwischen Mutter und Sohn ergeben, die uns beide erfüllen und bereichern,